Immer mal wieder geht nach meinem Gefühl die „gleiche Berufsgruppe“ in den Streik und legt die Arbeit nieder.
Gibt es Tarifverhandlungen bei der Bahn, fahren keine Züge.
Streiken die Angestellten am Flughafen, ist der Flugverkehr eingeschränkt.
Wird die Arbeit in Teilen des Einzelhandels niedergelegt, kommt es zu Lieferverzögerungen im Einzelhandel oder bei speziellen Produkten. Aber wie streikt man eigentlich, wenn es um die Gesundheit des Menschen geht?
Wie funktioniert ein Streik im Gesundheitswesen?
Im Gesundheitswesen wird sehr sozial gestreikt. Am Morgen behandelt man Patienten, die ambulant zur Therapie kommen und bedürftige Patienten im stationären Bereich im Spital. Gegen Mittag läuft man mit schlechtem Gewissen zu Zug, weil man das Gefühl hat seine Kollegen im Stich zu lassen, um an einer Kundgebung in Bern teilnehmen zu können.
Auch die Wortwahl wird Bedacht gewählt, es wird zu einer Kundgebung aufgerufen, nicht zu einer Demonstration oder einem Streik. Dieser Kundgebung auf dem Bundesplatz wird zu dieser Zeit nur stattgegeben, da mit einem geringen Sicherheitsrisiko für die Stadt Bern zu rechnen ist und es keine grossen Reserven (Polizeikapazitäten) der Stadt in Anspruch nimmt. Nach Beendigung der Kundgebung wird zum Verlassen des Bundesplatzes innerhalb von 15 Minuten aufgefordert. So sozial wie wir Physiotherapeuten sind, setzen wir dies auch um.
Was ist der Hintergrund dieser Kundgebung?
Anlass zur Kundgebung in der Physiotherapie am 17.11.2023, waren die gescheiterten Tarifverhandlungen in der Physiotherapie. Die Taxpunkte in der Physiotherapie wurden seit 1997 nicht mehr verändert. Im Vergleich hierzu steigen die Lebenserhaltungskosten jährlich. Besonders für private Praxen ist es sehr schwierig sich zu finazieren.
Innerhalb von 10 Wochen war es Physiotherapeuten aus der ganzen Schweiz möglich rund 283`000 Unterschriften zu sammeln, um gegen den Tarifeingriff des Bundesrates vorzugehen. Wir haben es geschafft mit 10`000 Therapeuten, Angehörigen und Patienten uns auf dem Bundesplatz zu versammeln und unser Anliegen mit vereinten Kräften in Bern zu deponieren. Seit Jahren besteht in der Schweiz ein Mangel an ausreichenden Physiotherapeuten. Patienten warten teilweise sehr lange auf einen Behandlungstermin. Besonders macht sich dies in Spezialgebieten wie der lymphologischen, neurologischen, pädiatrischen und Beckenboden Therapie bemerkbar. In meiner Masterarbeit im Bereich Public Health habe ich recherchiert, dass es jährlich ungefähr 400 Physiotherapeuten aus dem Ausland benötigt die in der Schweiz den Beruf Physiotherapeut ausüben, um das aktuelle System stabil zu halten. Durch eine Kürzung der aktuell zu tief liegenden Taxpunkte, würde das System zunehmend instabiler werden.
Ich empfand die Stimmung auf dem Bundesplatz in Bern sehr überwältigend! Es tat mir gut dort zu sein! Für mich persönlich war es eine Möglichkeit, meinem Frust, meiner Energielosigkeit in einem Job den ich sehr liebe, der aber komplett unterbezahlt ist, Luft zu machen. Ich hatte das Gefühl gehört und verstanden zu werden, umgeben von vielen Kollegen, die genauso denken wie ich.
Ergebnisse aus einer Umfrage
Physioswiss hat eine Umfrage bei Physiotherapeuten und Praxisinhabern durchgeführt. Mit den Resultaten kann abgesehen, werden welche Folgen die Tarifanpassungen vom Bund zur Folge haben kann.
- 90% der Befragten geben an finanzielle Einbussen zu haben
- 74% sehen keine kostendeckende Behandlung von bestimmten Patientengruppen
- 42% der Praxisinhaber überlegen sich die Praxis zu schliessen
- 16% sind sich noch nicht sicher, ob sie die Praxis schliessen
- 54% überlegen in der Zukunft den Beruf zu wechseln
- 92% sehen eine Unterversorgung in der Schweiz, wenn der Tarifeingriff durchgeführt wird
Alle Prozentangaben die mit „ja“ und „ehr ja“ angegeben wurden, sind zusammengezählt worden.
https://physioswiss.ch
Was Physiotherapeuten leisten
- Weiterbildungen oder auch erwartete Masterabschlüsse werden in der Freizeit absolviert, mehrheitlich trägt man die Kosten selbst
- Berichte die der Arzt oder Patienten verlangen, können nicht verrechnet werden, auch nicht das Lesen des Berichts oder der Unterlagen
- Physiotherapeuten haben keine Vorbereitungszeit für den Patienten
- Zeit, die man für Patienten benötigt (Organisation) ohne dass der Patient anwesend ist, kann nicht verrechnet werden
- Physiotherapeuten die in einer Praxis Arbeiten behandeln alle 25- 30 Minuten einen neuen Patienten täglich
- Physiotherapeuten, die in der Praxis arbeiten, erledigen ihre administrativen Aufgaben nach einem Arbeitstag, nach der Arbeit am Patienten
- Dokumentation für getätigte Leistungen am Patienten müssen in der Behandlungszeit erfolgen, sonst tätigt man diese Aufgaben in seiner Pause oder nach der eigentlichen Arbeitszeit
- Die Physiotherapieausbildung in der Schweiz ist ein Studiengang und beträgt 4 Jahre
Warum haben wir die Situation, dass zum einen alles getan wird, damit Menschen älter werden können aber Heilberufe vom Staat nicht gefördert werden? Mit diesem Vorgehen werden viele Berufsgruppen (Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Ernährungsberater, Logopäden, medizinische Masseure) an den Rand des Existenzminimums gedrückt.
Fragen die offenen bleiben
- Wieso muss mit der Gesundheit von Menschen Profit gemacht werden? – Wirtschaftlich arbeiten ja, aber Profit?
- Wieso gibt es in gefüllt allen Berufen einen Teuerungsausgleich aber nicht im Bereich der Physiotherapeuten/Heilberufe?
- Wieso verdienen Frauen immer noch weniger als Männer?
- Wieso wird Frauen der Verbleib im Berufsleben nach einer Mutterschaft erschwert?
- Wieso sind immer noch so wenig Teilzeitstellen oder familienfreundliche Modelle vorhanden?
- Wieso gibt es so wenig Unterstützung vom Bund für familienfreundliche Modelle in der Schweiz?
Wie man beim Lesen vielleicht merkt, es war ein Thema was mich persönlich sehr beschäftigt. Wir hoffen auf eine positive Veränderung in der Situation.
Alles Liebe
Andrea